(1) Körperliche Anforderungen an das Muskel-Skelett-System sind notwendige Voraussetzungen zur Aufrechterhaltung der Gesundheit und deshalb auch bei beruflicher Arbeit nicht grundsätzlich als schädigend anzusehen. Ergonomisch gut gestaltete Arbeit begrenzt körperliche Anforderungen auf eine Intensität, die den Bewegungsapparat aktiviert, gesund erhält und nicht überfordert.
(2) Bei wesentlich erhöhten und hohen Belastungen kann es zur Überforderung der Muskulatur mit kurz- oder langfristigen Beschwerden kommen. Auch an den passiven Strukturen des Körpers (Knochen, Gelenkknorpel und andere Gelenkstrukturen, Bandscheiben, Sehnen und Sehnenansätze, Bänder) können hohe mechanische Belastungen Überbeanspruchungen bewirken. Wesentlich erhöhte und hohe körperliche Belastungen sind oft verbunden mit Beschwerden, Schmerzen und funktionellen Einschränkungen am Bewegungsapparat als unspezifische und individuell unterschiedlich ausgeprägte Folgen von Überbeanspruchungen.
(3) Kurzzeitig einwirkende wesentlich erhöhte und hohe körperliche Belastungen können vorrangig zur Muskelermüdung führen. Als langfristige Folgen für das Muskel-Skelett-System können in Abhängigkeit von den aufzuwendenden Kräften, der Dauer und den Wiederholungen der Belastungen u. a. degenerative Veränderungen der Wirbelsäule (zum Beispiel Bandscheibenschäden), der Gelenke (zum Beispiel Gelenk- und Meniskusschäden) sowie der Muskeln, Sehnen, Sehnenansätze und Bänder (zum Beispiel Sehnenscheidenentzündungen) verursacht oder verstärkt werden. Bei Ganzkörperarbeit und Belastungen großer Muskelgruppen können zusätzlich das Herz-Kreislauf-System sowie das Atmungssystem in hohem Maße beansprucht sein.
(4) Die im Anhang der ArbMedVV genannten Belastungen können unterschiedliche Beanspruchungen bewirken:
a) | Manuelle Lastenhandhabungen können zur Ermüdung der direkt betroffenen Muskulatur, zur allgemeinen körperlichen Ermüdung sowie zu Beschwerden und Erkrankungen des Muskel-Skelett-Systems führen. Belastungen durch Lastenhandhabung betreffen besonders die Lendenregion des Rückens, aber auch den oberen Rücken, die Arme und Schultern sowie die Hüft- und Kniegelenke. Typisch für akute und subakute Wirkungen sind Beschwerden und/oder Schmerzen im Bereich der Lendenwirbelsäule, der oberen Extremitäten oder der unteren Extremitäten. Auch unfallbedingte Verletzungen sind bei der manuellen Lastenhandhabung zu beobachten. Chronische Wirkungen können dauerhafte unspezifische Beschwerden (zum Beispiel chronische unspezifische Rückenschmerzen) sein, aber auch die Folge morphologischer Veränderungen insbesondere an den Bandscheiben der Lendenwirbelsäule und der Halswirbelsäule sowie an großen Gelenken (Arthrosen der Hüft- und Kniegelenke). Darüber hinaus sind Veränderungen im Zusammenhang mit Druckerhöhungen im Bauchraum (Descensus uteri bei Frauen, Varizenbildung an den Beinen, Hernien) als Belastungsfolgen bekannt und können zu chronischen Beschwerden führen. |
b) | Repetitive manuelle Tätigkeiten belasten durch gleichförmige oder weitgehend ähnliche und häufig wiederholte Arbeitszyklen das Hand-Arm-System, teilweise bis in den Schulter-Nacken-Bereich. Repetitive Belastungen können zu Überlastungen der Gelenke, Muskeln, Sehnenansätze und Sehnen in diesen Bereichen führen, wenn nicht genügend Zeit zwischen den aufeinanderfolgenden Handlungszyklen zur ausreichenden Regeneration zur Verfügung steht. Dauert die Belastung an, können überlastungsbedingte und degenerative Erkrankungen der oberen Extremitäten ausgelöst oder verstärkt werden. Akute Wirkungen sind akute bzw. subakute (oft rezidivierende) Beschwerden meist im Sehnen- und Sehnenansatzbereich. Sie sind durch Belastungsreduktion oder -karenz meist gut konservativ zu therapieren. Bei anhaltender bzw. wiederholter Belastung ist eine Chronifizierung der Beschwerden möglich. Eine Reihe von Krankheitsbildern kann ausgelöst oder verstärkt werden. Dazu zählen im Bereich der oberen Extremitäten insbesondere Erkrankungen der Sehnen und Sehnenscheiden und der Sehnenansätze (zum Beispiel Epicondylitis), Kompressionssyndrome der Nerven (zum Beispiel Karpaltunnelsyndrom). Es kann zu degenerativ bedingten Schmerzsyndromen der Halswirbelsäule mit Schmerzausstrahlung in die Schulterregion und den Nacken und zu Verspannungen der Schulter-Nacken-Muskulatur kommen (zum Beispiel Zervikobrachialsyndrom). Degenerative Erkrankungen der Schulter (zum Beispiel Rotatorenmanschettensyndrom) und der Handgelenke (zum Beispiel Arthrosen der Handgelenke) sind möglich. |
c) | Erzwungene Körperhaltungen können zu hohen statischen Muskelbeanspruchungen führen. Mögliche Folgen sind Muskelermüdung und schmerzhafte Muskelverspannungen in Rücken, Armen oder Beinen mit Einschränkungen der Leistungsfähigkeit. Extreme Winkelstellungen der Gelenke können zu hohen biomechanischen Belastungen der Gelenkstrukturen führen.
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(5) Im Zusammenhang mit den in Abschnitt 2.2 genannten Belastungsarten kann es zu lokalen mechanischen Druckeinwirkungen kommen, zum Beispiel durch Dauerabstützen über das Handgelenk oder die Ellenbogen. Dies kann zu direkten oder indirekten Druckeinwirkung insbesondere auf periphere Nerven und andere Strukturen (Schleimbeutel, Haut) im Bereich der oberen und unteren Extremitäten oder des Rumpfes führen. Folgen lokaler mechanischer Druckeinwirkungen sind Nervenkompressionssyndrome (zum Beispiel das Sulcus-ulnaris-Syndrom im Bereich des Ellenbogens). Durch lokale Druckeinwirkungen werden akute Entzündungen lokaler gelenknaher Schleimbeutel (zum Beispiel Bursitis präpatellaris) bewirkt. Einmalige, meist aber wiederholte oder chronische stumpfe Gewalteinwirkung auf die Arteria ulnaris im Bereich der Handinnenfläche bzw. der Handkante kann aufgrund der ungünstigen lokalen anatomischen Gegebenheiten zur traumatischen Endothelläsion des Gefäßes führen.
(6) Die in Abschnitt 2.2 genannten Belastungsarten können chronische und funktionell stark beeinträchtigende Erkrankungen verursachen, die unter bestimmten Voraussetzungen als Berufskrankheiten anerkannt und entschädigt werden können (siehe Berufskrankheiten-Verordnung [4]).
(7) Bei der ärztlichen Bewertung der Ergebnisse der Gefährdungsbeurteilung in Bezug auf die verschiedenen körperlichen Belastungsarten und bei der individuellen arbeitsmedizinischen Beratung der betroffenen Beschäftigten ist zu berücksichtigen, dass die Ursachen für Beschwerden und Erkrankungen des Muskel-Skelett-Systems komplex sind. Neben den genannten Arten der körperlichen Belastung sind u. a. auch mechanische Einwirkungen (z. B. Vibration) und individuelle Aspekte der Konstitution (z. B. graziler Körperbau), der Disposition (z. B. Folgen von Vorerkrankungen), der körperlichen Entwicklung (z. B. nicht abgeschlossenes Skelettwachstum), der Übung, der Erfahrung und des Trainings in Bezug auf die spezifischen motorischen Anforderungen im Beruf (z. B. Unerfahrenheit von Berufseinsteigern und -anfängern) sowie spezielle physiologische Situationen (z. B. in der Schwangerschaft) von Bedeutung.