3. Arbeitsmedizinische Grundlagen

(1) Körperliche Anforderungen an das Muskel-Skelett-System sind notwendige Voraussetzungen zur Aufrechterhaltung der Gesundheit und deshalb auch bei beruflicher Arbeit nicht grundsätzlich als schädigend anzusehen. Ergonomisch gut gestaltete Arbeit begrenzt körperliche Anforderungen auf eine Intensität, die den Bewegungsapparat aktiviert, gesund erhält und nicht überfordert.

(2) Bei wesentlich erhöhten und hohen Belastungen kann es zur Überforderung der Muskulatur mit kurz- oder langfristigen Beschwerden kommen. Auch an den passiven Strukturen des Körpers (Knochen, Gelenkknorpel und andere Gelenkstrukturen, Bandscheiben, Sehnen und Sehnenansätze, Bänder) können hohe mechanische Belastungen Überbeanspruchungen bewirken. Wesentlich erhöhte und hohe körperliche Belastungen sind oft verbunden mit Beschwerden, Schmerzen und funktionellen Einschränkungen am Bewegungsapparat als unspezifische und individuell unterschiedlich ausgeprägte Folgen von Überbeanspruchungen.

(3) Kurzzeitig einwirkende wesentlich erhöhte und hohe körperliche Belastungen können vorrangig zur Muskelermüdung führen. Als langfristige Folgen für das Muskel-Skelett-System können in Abhängigkeit von den aufzuwendenden Kräften, der Dauer und den Wiederholungen der Belastungen u. a. degenerative Veränderungen der Wirbelsäule (zum Beispiel Bandscheibenschäden), der Gelenke (zum Beispiel Gelenk- und Meniskusschäden) sowie der Muskeln, Sehnen, Sehnenansätze und Bänder (zum Beispiel Sehnenscheidenentzündungen) verursacht oder verstärkt werden. Bei Ganzkörperarbeit und Belastungen großer Muskelgruppen können zusätzlich das Herz-Kreislauf-System sowie das Atmungssystem in hohem Maße beansprucht sein.

(4) Die im Anhang der ArbMedVV genannten Belastungen können unterschiedliche Beanspruchungen bewirken:

a)  Manuelle Lastenhandhabungen können zur Ermüdung der direkt betroffenen Muskulatur, zur allgemeinen körperlichen Ermüdung sowie zu Beschwerden und Erkrankungen des Muskel-Skelett-Systems führen. Belastungen durch Lastenhandhabung betreffen besonders die Lendenregion des Rückens, aber auch den oberen Rücken, die Arme und Schultern sowie die Hüft- und Kniegelenke.

Typisch für akute und subakute Wirkungen sind Beschwerden und/oder Schmerzen im Bereich der Lendenwirbelsäule, der oberen Extremitäten oder der unteren Extremitäten. Auch unfallbedingte Verletzungen sind bei der manuellen Lastenhandhabung zu beobachten.

Chronische Wirkungen können dauerhafte unspezifische Beschwerden (zum Beispiel chronische unspezifische Rückenschmerzen) sein, aber auch die Folge morphologischer Veränderungen insbesondere an den Bandscheiben der Lendenwirbelsäule und der Halswirbelsäule sowie an großen Gelenken (Arthrosen der Hüft- und Kniegelenke). Darüber hinaus sind Veränderungen im Zusammenhang mit Druckerhöhungen im Bauchraum (Descensus uteri bei Frauen, Varizenbildung an den Beinen, Hernien) als Belastungsfolgen bekannt und können zu chronischen Beschwerden führen.

b) Repetitive manuelle Tätigkeiten belasten durch gleichförmige oder weitgehend ähnliche und häufig wiederholte Arbeitszyklen das Hand-Arm-System, teilweise bis in den Schulter-Nacken-Bereich. Repetitive Belastungen können zu Überlastungen der Gelenke, Muskeln, Sehnenansätze und Sehnen in diesen Bereichen führen, wenn nicht genügend Zeit zwischen den aufeinanderfolgenden Handlungszyklen zur ausreichenden Regeneration zur Verfügung steht. Dauert die Belastung an, können überlastungsbedingte und degenerative Erkrankungen der oberen Extremitäten ausgelöst oder verstärkt werden.

Akute Wirkungen sind akute bzw. subakute (oft rezidivierende) Beschwerden meist im Sehnen- und Sehnenansatzbereich. Sie sind durch Belastungsreduktion oder -karenz meist gut konservativ zu therapieren.

Bei anhaltender bzw. wiederholter Belastung ist eine Chronifizierung der Beschwerden möglich. Eine Reihe von Krankheitsbildern kann ausgelöst oder verstärkt werden. Dazu zählen im Bereich der oberen Extremitäten insbesondere Erkrankungen der Sehnen und Sehnenscheiden und der Sehnenansätze (zum Beispiel Epicondylitis), Kompressionssyndrome der Nerven (zum Beispiel Karpaltunnelsyndrom). Es kann zu degenerativ bedingten Schmerzsyndromen der Halswirbelsäule mit Schmerzausstrahlung in die Schulterregion und den Nacken und zu Verspannungen der Schulter-Nacken-Muskulatur kommen (zum Beispiel Zervikobrachialsyndrom). Degenerative Erkrankungen der Schulter (zum Beispiel Rotatorenmanschettensyndrom) und der Handgelenke (zum Beispiel Arthrosen der Handgelenke) sind möglich.

c) Erzwungene Körperhaltungen können zu hohen statischen Muskelbeanspruchungen führen. Mögliche Folgen sind Muskelermüdung und schmerzhafte Muskelverspannungen in Rücken, Armen oder Beinen mit Einschränkungen der Leistungsfähigkeit. Extreme Winkelstellungen der Gelenke können zu hohen biomechanischen Belastungen der Gelenkstrukturen führen.
  • Arbeiten in Rumpfbeugehaltung

    Arbeiten in Rumpfbeugehaltung schließen Arbeiten mit vorgeneigtem und weit vorgebeugtem Oberkörper im Stehen (gebeugtes und gebücktes Stehen) und Arbeiten im vorgebeugten (besonders im nicht abgestützten) Sitzen ein. Bei einer längeren und ungenügend unterbrochenen Dauer können sie zu einer statischen Überbeanspruchung der Haltungsmuskulatur des Rückens führen. Die Folgen können akute bzw. zeitweilige Gesundheitsbeeinträchtigungen und chronische Gesundheitsstörungen sein.

    Akute Gesundheitsbeeinträchtigungen sind insbesondere Überlastungen der muskulo-ligamentären Strukturen (Muskeln und Bänder) mit der Folge von Rückenbeschwerden und pseudoradikulären Syndromen.

    Chronische Gesundheitsstörungen durch länger dauernde Belastungen sind insbesondere chronische Rückenschmerzen mit Bewegungseinschränkungen. Bei dauerhafter starker Rumpfbeugung können Beschwerden bei vorhandenen bandscheibenbedingten Erkrankungen der Lendenwirbelsäule verstärkt werden. Strukturelle Schädigungen des Rückens wie Bandscheibenschäden der Lendenwirbelsäule sind als Folge von Körperzwangshaltungen ohne erhebliche Lasten nicht nachweisbar.

  • Arbeiten über Kopf- bzw. Schulterniveau:

    Manuelle Arbeiten auf oder oberhalb der Schulterhöhe bzw. der Kopfhöhe führen zu sehr hohen muskulären Beanspruchungen der Schulter- und Armmuskulatur sowie der oberen Rückenmuskulatur durch Haltungsarbeit der Arme und ggf. zusätzliches Halten von Werkzeugen und Material. Sie werden verstärkt bei Überkopfarbeiten durch Rückwärtsneigung bzw. Verdrehung des Kopfes. Einschränkungen der Durchblutung der Arme durch verminderten hydrostatischen Druck in den Blutgefäßen vermindern zusätzlich die Kraftleistung. Bei Arbeiten mit Händen über Schulterniveau oder Überkopfarbeiten sind auch geringe Kraftaufwendungen nur für einige Minuten ununterbrochen erträglich bzw. ausführbar.

    Akute Gesundheitsbeeinträchtigungen sind insbesondere Überlastungen der Muskeln sowie der Gelenk- und Bandstrukturen (Schmerzen, Beschwerden, Funktionseinschränkungen) im Bereich der Schultern, der Arme, des Nackens und oberen Rückens.

    Chronische Gesundheitsstörungen sind insbesondere Schmerzsyndrome im Bereich des Nackens mit Ausstrahlung in die Schulter besonders bei degenerativen Veränderungen im Bereich der Halswirbelsäule sowie durch chronische Funktionsstörungen der Schulter-Nacken-Muskulatur und degenerative Erkrankungen der Schulter (Rotatorenmanschettensyndrom, Impingementsyndrom).

  • Arbeiten im Knien oder Hocken:

    Arbeiten im Knien können einseitig oder beidseitig mit oder ohne Abstützung des Oberkörpers ausgeführt werden. Dem Knien vergleichbar sind das Hocken, der Fersensitz oder das Kriechen. Häufige erhebliche Beanspruchungen beim Laufen auf grob unebener Unterlage oder beim Springen mit gelegentlichen Knick-, Scher- oder Drehbewegungen steigern das Risiko einer Fehlbeanspruchung.

    Akute Gesundheitsbeeinträchtigungen können im Zusammenhang mit kniebelastenden Tätigkeiten durch Überlastungen der Kniegelenke sowie Reizungen und Entzündungen der Schleimbeutel entstehen.

    Chronische Gesundheitsstörungen oder -schäden sind durch länger dauernde Belastungen möglich – insbesondere Gelenkschäden (Kniegelenksarthrosen), Meniskusschäden der Kniegelenke oder Entzündungen der Schleimbeutel (Bursitis praepatellaris).

  • Langdauerndes Stehen

    Jedes Stehen auch verbunden mit Gehen über sehr kurze Strecken (in der Regel bis ca. 5 m-Strecken) erfordert statische Haltungsarbeit und kann nach langer Zeit rückenbelastend wirken, wenn es nicht durch Pausen unterbrochen werden kann.

    Akute Gesundheitsbeeinträchtigungen sind muskuläre Ermüdung der Rumpfmuskulatur des Rückens und unspezifische Beschwerden in den unteren Extremitäten.

    Längerfristig werden statische Fußdeformitäten verstärkt.

    Stehen beeinträchtigt den venösen Bluttransport aus den Beinen. Akute Folgen sind Beschwerden bis zur Ödem Bildung. Langfristig wird die Entstehung von Krampfadern der Beinvenen gefördert.

  • Erzwungenes Sitzen

    Langdauerndes erzwungenes Sitzen ohne wirksame Unterbrechung erfordert statische Haltearbeit des Rumpfes und des Kopfes. Gesundheitliche Folgen sind muskuläre Beschwerden im Bereich der Nacken- und Rumpfmuskulatur. Akute und langdauernde Gesundheitsbeeinträchtigungen sind muskuläre Ermüdung der Rumpfmuskulatur des Rückens sowie des Nackens.

(5) Im Zusammenhang mit den in Abschnitt 2.2 genannten Belastungsarten kann es zu lokalen mechanischen Druckeinwirkungen kommen, zum Beispiel durch Dauerabstützen über das Handgelenk oder die Ellenbogen. Dies kann zu direkten oder indirekten Druckeinwirkung insbesondere auf periphere Nerven und andere Strukturen (Schleimbeutel, Haut) im Bereich der oberen und unteren Extremitäten oder des Rumpfes führen. Folgen lokaler mechanischer Druckeinwirkungen sind Nervenkompressionssyndrome (zum Beispiel das Sulcus-ulnaris-Syndrom im Bereich des Ellenbogens). Durch lokale Druckeinwirkungen werden akute Entzündungen lokaler gelenknaher Schleimbeutel (zum Beispiel Bursitis präpatellaris) bewirkt. Einmalige, meist aber wiederholte oder chronische stumpfe Gewalteinwirkung auf die Arteria ulnaris im Bereich der Handinnenfläche bzw. der Handkante kann aufgrund der ungünstigen lokalen anatomischen Gegebenheiten zur traumatischen Endothelläsion des Gefäßes führen.

(6) Die in Abschnitt 2.2 genannten Belastungsarten können chronische und funktionell stark beeinträchtigende Erkrankungen verursachen, die unter bestimmten Voraussetzungen als Berufskrankheiten anerkannt und entschädigt werden können (siehe Berufskrankheiten-Verordnung [4]).

(7) Bei der ärztlichen Bewertung der Ergebnisse der Gefährdungsbeurteilung in Bezug auf die verschiedenen körperlichen Belastungsarten und bei der individuellen arbeitsmedizinischen Beratung der betroffenen Beschäftigten ist zu berücksichtigen, dass die Ursachen für Beschwerden und Erkrankungen des Muskel-Skelett-Systems komplex sind. Neben den genannten Arten der körperlichen Belastung sind u. a. auch mechanische Einwirkungen (z. B. Vibration) und individuelle Aspekte der Konstitution (z. B. graziler Körperbau), der Disposition (z. B. Folgen von Vorerkrankungen), der körperlichen Entwicklung (z. B. nicht abgeschlossenes Skelettwachstum), der Übung, der Erfahrung und des Trainings in Bezug auf die spezifischen motorischen Anforderungen im Beruf (z. B. Unerfahrenheit von Berufseinsteigern und -anfängern) sowie spezielle physiologische Situationen (z. B. in der Schwangerschaft) von Bedeutung.