(1) In der Regel liegen für die zu bewertenden Stoffe keine ausreichenden Berichte zu Befunden bei Arbeitnehmern und häufig auch toxikologische Daten nur in begrenztem Umfang vor. Infolgedessen sind zur Ableitung des jeweiligen AGW verschiedene Extrapolationsschritte durchzuführen. Für die einzelnen Extrapolationsschritte werden nachfolgend Standardfaktoren angegeben, die immer dann anzuwenden sind, wenn keine stoffspezifischen Informationen vorliegen. Sind jedoch stoffspezifische Daten (z. B. aufgrund von PBPK-Modellen) für einen oder mehrere Extrapolationsschritte bekannt oder plausibel ableitbar, sollten diese anstelle der Standardfaktoren verwendet werden oder zu deren Modifikation führen. Derartige Abweichungen sollten begründet werden.
(2) Soweit möglich stützen sich die nachfolgend genannten Standardfaktoren auf empirische Daten und theoretische Überlegungen. Eine detaillierte Darstellung des Hintergrundes ist dem gemeinsamen UBA/BAuA-Bericht "Quantifizierung von Extrapolationsfaktoren" (FKZ 116-06-113). zu entnehmen.
Der AGW soll bei kurzfristigen und chronischen inhalativen Belastungen beruflich exponierte Arbeitnehmer dauerhaft vor gesundheitlichen Schäden schützen. Unter chronischen inhalativen Belastungen wird eine Belastung von acht Stunden pro Tag an fünf Tagen pro Woche während der Lebensarbeitszeit verstanden.
(1) Durch Anwendung von verschiedenen Extrapolationsfaktoren soll eine der AGW-Definition genügende, nicht mehr schädigende Luftkonzentration ermittelt werden. Hieraus folgt, dass zur Ableitung von AGW Studien mit wiederholter Verabreichung erforderlich sind, in denen ein "no observed adverse effect level" (NOAEL) ermittelt wurde. Wurde in Studien mit wiederholter Verabreichung kein NOAEL ermittelt, ist in der Regel auch die Ableitung eines AGW nicht möglich. In solchen Fällen sollte geprüft werden, ob durch Extrapolation der vorliegenden Daten ein ausreichend zuverlässiger "no adverse effect level" (NAEL) gefunden werden kann (z. B. Benchmark-Prozedere, Kurvenanpassung, SAR).
(2) Aus der Zielsetzung ergibt sich zwangsläufig, dass im Vergleich zu Studien mit anderen Applikationswegen, Inhalationsstudien zu bevorzugen sind. Gleiches gilt für längerfristige im Vergleich zu kurzfristigen Studien. Liegen für einen Stoff mehrere Studien mit wiederholter Verabreichung vor, sollten die einzelnen Studien kritisch bewertet werden, um die für die weitere Bearbeitung relevanteste Studie auszuwählen. Generell sollte dabei die Studie mit der empfindlichsten Tierspezies zu Grunde gelegt werden.
Liegen nur Studien mit vergleichsweiser kurzer Applikationsdauer vor, ist der NOAEL nach chronischer Belastung abzuschätzen. Dabei ist zu unterscheiden zwischen Stoffen, deren kritische Toxizität lokaler bzw. systemischer Natur ist.
(1) Aus der publizierten Literatur, einer internen BAuA-Auswertung und Auswertungen des Arbeitskreises "AGW-Kriterien" lässt sich abschätzen, in welchem Ausmaß sich der NOAEL beim Übergang von kurzfristigen zu längerfristigen Studien erniedrigt. Die nachfolgende Tabelle enthält den aus den einzelnen Datensätzen berechneten geometrischen Mittelwert sowie den zugehörigen 90%-Wert. (Da nicht in allen ausgewerteten Studien ein NOAEL ermittelt wurde, sind in die Berechnungen teilweise auch LOAEL-Werte eingeflossen. Eine ausschließlich auf NOAEL-Werten beruhende Berechnung zeigte jedoch, dass im Vergleich zu den Werten der vorliegenden Tabelle (bei einer deutlich reduzierten Anzahl von Werten) kein wesentlich anderes Bild erhalten wird. Wegen der größeren Datenbasis wurden daher sowohl NOAEL- als auch LOAEL-Werte verwendet).
SA/SC | SC/C | SA/C | Bemerkung | |||||||
Autor | GM | 90 % | n | GM | 90 % | n | GM | 90 % | n | |
Weil '63 | 2,2 | 5,8 | 33 | oral, div. Spezies | ||||||
Woutersen '84 | 2,0 | 6,6 | 82 | oral, Ratte | ||||||
Rulis '85 | 2,0 | 9,0 | 20 | oral, div. Spezies | ||||||
Kramer '95 | 2,2 | 62* | 91 | 1,7 | 29* | 149 | 6,5 | 53* | 57 | oral, div. Spezies |
Kramer '95 | 3,4 | 37 | oral, Ratte | |||||||
FoBiG '96a | 3,3 | 10,0 | 87 | 2,9 | 8,6 | 71 | 5,1 | 14,1 | 76 | oral, Ratte; Industriedaten |
FoBiG '96a | 2,6 | 10,0 | 78 | 2,5 | 6,0 | 55 | 4,2 | 10,6 | 51 | oral, Maus; Industriedaten |
FoBiG '96b | 2,1 | 8,1 | 21 | 1,7 | 5,0 | 24 | 3,2 | 14,7 | 21 | oral, Ratte; NTP-Studien |
FoBiG '96b | 2,6 | 5 | 2,0 | 5,0 | 18 | 12 | 29,7 | 11 | oral, Maus; NTP-Studien | |
Kramer '95 | 1,7 | 16* | 22 | 1,9 | 142* | 10 | 10 | 10³* | 10 | inh., div. Spezies |
BAuA '96 | 2,0 | 11 | 10 | 2,8 | 11 | 12 | 3,2 | 12 | 13 | inh., Ratte; NTP-Studien |
BAuA '96 | 2,2 | 8,0 | 9 | 3,3 | 22,2 | 16 | 7,0 | 34,5 | 10 | inh., Maus; NTP-Studien |
Durchschnitt | 2,3 | 2,3 | 6,1 | (19,3) |
Tabelle 1: | Erniedrigung von NOAEL-/LOAEL-Werten für systemische Effekte bei Verlängerung der Versuchszeit SA: subakut; SC: subchronisch; C: chronisch GM: geometrischer Mittelwert; 90%: 90-Perzentil, n: Anzahl der Werte; *: 95-Perzentil |
(2) Aus Tabelle 1 ist ersichtlich, dass sich beim Übergang von subakuten (SA) auf subchronische (SC) und von subchronischen auf chronische Studien eine vergleichsweise konsistente Erniedrigung der NOAEL-/LOAEL-Werte um den Faktor 2 ergibt. Diese Konsistenz ergibt sich trotz der Inhomogenität einzelner Datensätze (z. B. keine Differenzierung nach Versuchstierspezies; Zusammenfassung von Studien mit Applikationszeiten von zehn bis 30 Tagen als subakute Studie). Auch ist kein wesentlicher Unterschied zwischen oralen und inhalativen Studien erkennbar.
(3) Beim Vergleich der subakuten Studien mit den chronischen Studien sind die Mittelwerte generell höher als beim Übergang SA/SC oder SC/C. Außerdem variieren die Mittelwerte der einzelnen Datensätze stärker. Aufgrund dieser Daten sollten für die Zeitextrapolation folgende Standardfaktoren verwendet werden:
SA → SC: 2
SC → C : 2
SA → C : 6
Diese Standardfaktoren entsprechen in etwa dem Median der jeweiligen Verteilung. Größere Faktoren, die ein höheres Schutzniveau bewirken würden, werden jedoch nicht für erforderlich gehalten, da durch die weiteren Extrapolationsschritte sich das Schutzniveau ohnehin weiter erhöht.
Zur Abschätzung in welchem Ausmaß sich der NOAEL beim Übergang von kurzfristigen zu längerfristigen Studien erniedrigt, können für Stoffe, deren kritische Toxizität lokale Effekte am Respirationstrakt darstellen, nur Inhalationsstudien herangezogen werden. In einem Forschungsprojekt der BAuA wurden 46 NTP-Stoffberichte, in denen jeweils Studien mit subakuter, subchronischer und chronischer Expositionsdauer beschrieben wurden, ausgewertet (KALBERLAH, F. et al., Zeitextrapolation und Interspeziesextrapolation bei lokal wirksamen Stoffen mit begrenzter Datenlage, Schriftenreihe der BAuA Fb 862, 1999). Entsprechend der Ergebnisse dieses Forschungsprojekts sollten zur Frage der Zeitextrapolation lokaler Effekte folgende Standardfaktoren verwendet werden:
SC → C : 2
SA → C : 6
(1) Empirische Untersuchungen zur Abhängigkeit physiologischer Parameter vom Körpergewicht verschiedener Spezies (Allometrie) haben gezeigt, dass nicht in allen Fällen eine direkte Proportionalität zum jeweiligen Körpergewicht besteht. Verallgemeinernd kann aus diesen Untersuchungen geschlossen werden, dass zwischen Volumina (z. B. Blutvolumen, Organgrößen) und Körpergewichten verschiedener Spezies eine lineare Abhängigkeit besteht (Volumina sind proportional zum Körpergewicht hoch 1); zeitabhängige Parameter (z. B. Pump-Leistung des Herzens; Grundumsatz, Sauerstoffverbrauch, glomeruläre Filtrationsrate) verhalten sich bei verschiedenen Spezies proportional zum Körpergewicht hoch 0,75. Da insbesondere die zeitabhängigen Parameter das kinetische Verhalten eines Stoffes bestimmen, und damit letztlich die innere Exposition des Organismus, folgt, dass sich die äquipotenten Gesamtdosen für verschiedene Spezies wie deren Körpergewicht hoch 0,75 verhalten. Bei diesem Standardwert wird unterstellt, dass keine toxikodynamischen Unterschiede bestehen. Dies führt dazu, dass, ausgehend von Ratten- bzw. Mäuseversuchen, die äquipotenten Dosen in mg/kg Körpergewicht für den Menschen um den Faktor 4 bzw. 7 kleiner sind als die Dosen, die bei einfacher Berücksichtigung des Körpergewichtes (Körpergewicht hoch 1) errechnet werden. Die vorhandenen Stoffbeispiele stützen diese Überlegungen.
(2) Für inhalativ geprüfte Stoffe bedeutet die Umrechnung auf obiger Basis, dass die bei Mensch und Versuchstier äquipotenten Luftkonzentrationen identisch sind. Zu beachten ist jedoch, dass beim Versuchstier gegebenenfalls eine Atemdepression aufgrund einer sensorischen Reizwirkung auftreten kann. Die dadurch verringerte Stoffaufnahme ist bei Übertragung der jeweiligen Luftkonzentration auf den Menschen durch einen entsprechenden Faktor zu berücksichtigen, falls nicht gezeigt werden kann, dass eine vergleichbare Atemdepression auch bei Arbeitnehmern auftritt.
(3) Liegen Inhalationsuntersuchungen mit vergleichsweise unlöslichen Stäuben vor und wurde eine bewertungsrelevante systemische Wirkung beobachtet, so handelt es sich um einen Sonderfall, der in den hier abgeleiteten Standardfaktoren derzeit nicht berücksichtigt ist (stoffspezifische Lösung erforderlich).
(1) Für Stoffe, deren kritische Toxizität in lokalen Effekten am Respirationstrakt besteht, können zur Interspeziesextrapolation nicht die unter Nummer 2.5.1 genannten Allometrie-Beziehungen verwendet werden. Diese berücksichtigen die Stoffkinetik im gesamten Organismus; für lokale Effekte am Respirationstrakt ist es plausibel, dass die Dosis des Stoffes oder des wirksamen Metaboliten pro Fläche das Ausmaß der toxischen Reaktion bestimmt. Für die Interspeziesextrapolation sind daher nur die anatomischen, physiologischen und biochemischen Unterschiede des Respirationstraktes von Mensch und Versuchstier in Betracht zu ziehen. Diese Unterschiede können beispielsweise dazu führen, dass die primäre Deposition eines Stoffes bei Mensch und Versuchstier in verschiedenen Kompartimenten des Respirationstraktes erfolgt und/oder Unterschiede in Kapazität und Geschwindigkeit der metabolischen Umwandlung variable Effekte bei Mensch und Versuchstier hervorrufen.
(2) Zur summarischen Berücksichtigung der denkbaren Unterschiede liegen derzeit keine ausreichende Kenntnisse vor, so dass keine Standardfaktoren begründet werden können. Vorläufig wird es als ausreichend erachtet, beim Fehlen stoffspezifischer Daten eine gleiche Empfindlichkeit von Mensch und Versuchstier zu unterstellen.
(1) Bei systemisch wirkenden Stoffen ist eine Extrapolation von Daten nach oraler Verabreichung auf die inhalative Belastung möglich, wenn keine Hinweise auf wesentliche Unterschiede hinsichtlich Resorption und Metabolismus bestehen. Hinweise auf derartige Unterschiede können beispielsweise aus dem Vergleich der akuten oralen und inhalativen Toxizität oder durch Struktur-Wirkungs-Beziehungen erhalten werden. Liegen derartige Hinweise nicht vor, wird unterstellt, dass die oral verabreichte Stoffmenge die gleiche Wirksamkeit wie die inhalierte Stoffmenge besitzt.
(2) Die bei Schlundsonden-Applikation im Vergleich zu Fütterungsstudien im Organismus möglicherweise auftretenden unterschiedlichen Konzentrations-Zeit-Muster und die daraus resultierenden Unterschiede in der toxischen Reaktion werden vernachlässigt, wenn keine speziellen stoffspezifischen Daten dem widersprechen.
(3) Eine Wegextrapolation ist nicht möglich,
(1) Die oben beschriebene Interspeziesextrapolation deckt die Unterschiede zwischen Tier und Mensch im Mittel ab. Der Mensch kann jedoch auch empfindlicher (oder unempfindlicher) als das Versuchstier reagieren (toxikokinetische und toxikodynamische Interspeziesvariabilität). Außerdem können innerhalb einer Population im Vergleich zum Durchschnitt empfindlichere Individuen vorhanden sein (Intraspeziesvariabilität). Um auch größere Speziesunterschiede zu berücksichtigen und empfindliche Personen angemessen schützen zu können, ist es erforderlich, einen weiteren Extrapolationsfaktor zu verwenden.
(2) Aus der (spärlichen) Literatur ergibt sich, dass ein Faktor von 2 den größten Teil der zu vermutenden Variationen toxikokinetischer Größen in einem Arbeitnehmerkollektiv abdeckt. Zur Häufigkeit toxikodynamischer Unterschiede in einer Population liegen nur in Einzelfällen ausreichende Informationen vor. Daher kann nur vermutet werden, dass ein Faktor von 2 bis 3 toxikodynamisch bedingte Empfindlichkeitsunterschiede ausreichend berücksichtigt. Damit ergibt sich zur Berücksichtigung der gesamten Intraspezies- und Interspeziesvariabilität ein Standardfaktor von 5.
(1) In der Regel entspricht der für den Menschen extrapolierte NOAEL dem AGW. Derzeit wird nicht die Notwendigkeit gesehen, weitere Faktoren zur Berücksichtigung von Art und Schweregrad des antizipierten toxischen Effektes festzulegen. In Einzelfällen kann dies jedoch erforderlich werden.
(2) Zur besseren Übersicht werden nachfolgend bei ausgesprochen spärlicher Datenlage die sich ergebenden maximalen Gesamtfaktoren bei Verwendung von Standardfaktoren ohne stoffspezifische Modifikation genannt: