Bislang wurden AGW nur für solche Stoffe abgeleitet, für die eine krebserzeugende oder reproduktionstoxische Wirkung nicht bekannt ist. Da prinzipiell jedoch für reproduktionstoxische Stoffe ein Schwellenwert angenommen werden kann, wurde in einem Forschungsprojekt der BAuA (Schuhmacher-Wolz, U. et al., Ableitung von Arbeitsplatzgrenzwerten für Stoffe mit reproduktionstoxischen Eigenschaften, Schriftenreihe der BAuA Fb 1079, 2006) die Fragestellung untersucht, ob für solche Stoffe AGW bzw. Interspezies- und Zeitextrapolationsfaktoren abgeleitet werden können und ob sich diese von den bisherigen Extrapolationsfaktoren des AGW Konzeptes für sonstige systemische Wirkungen unterscheiden. Die Ergebnisse des Forschungsprojektes sind die Grundlage der folgenden Vorgehensweise.
(1) Für die Interspeziesextrapolation von Substanzen, welche zu Störungen der männlichen Fortpflanzungsfähigkeit führen, sollte analog dem bisherigen Vorgehen bei der Ableitung von AGW für sonstige systemische Effekte vorgegangen werden. Es konnte gezeigt werden, dass die Extrapolationsfaktoren im Mittel im Bereich von 1 lagen, sofern ein Scaling nach kalorischem Grundumsatz durchgeführt wurde.
(2) Um Variabilität ausreichend zu berücksichtigen, ist neben dem Scaling nach Grundumsatz ein weiterer Faktor erforderlich. Hierzu sollte der Faktor 5 verwendet werden (ein Faktor von ca. 5 deckte etwa das 90-Perzentil der Datensätze ab). Dieser Faktor stellt vor allem die Interspeziesvariabilität dar. Es wird kein zusätzlicher Faktor vorgeschlagen, der zusätzlich die Intraspeziesvariabilität abdeckt. Dies ist begründet darin, dass die zur männlichen Fertilität erhobenen Daten begrenzt sind und insgesamt nicht sicher darauf hinweisen, dass vom Faktor 5 des AGW-Konzeptes für die männliche Fertilität abgewichen werden muss.
(3) Bei der Ableitung von AGW unter Berücksichtigung von Effekten auf die männliche Fertilität ist darauf zu achten, dass insbesondere bei Kurzzeitstudien eine angemessene Untersuchungstiefe (z. B. histopathologische Untersuchung von Testes und Epididymidis, Gewichte der Geschlechtsorgane) gewährleistet ist. Für die Zeitextrapolation konnte gezeigt werden, dass die Extrapolationsfaktoren alle etwas niedriger liegen als die derzeit angewendeten Faktoren des AGW-Konzeptes. Aufgrund des biologischen Hintergrunds (Dauer eines Spermatogenesezyklus) wird eine Extrapolation subchronisch → chronisch nicht für erforderlich gehalten. Kumulierende Stoffe oder Stoffe mit langen Halbwertzeiten sollten jedoch besondere Berücksichtigung finden und im Einzelfall diskutiert werden. Für die Extrapolation subakut → subchronisch sollte der Standardextrapolationsfaktor 2 des AGW-Konzeptes verwendet werden, unter der Voraussetzung, dass in dem subakuten Versuch eine ausreichende Untersuchungstiefe bestand.
(4) Falls in Ein- oder Mehrgenerationenstudien Beeinträchtigungen der Fertilität festgestellt werden und eine histologische Untersuchung der Testes nicht durchgeführt wurde, ist die Verwendung eines zusätzlichen Faktors 3 in Anlehnung an Mangelsdorf und Buschmann (2003) im Einzelfall zu prüfen bzw. anzuwenden.
(1) Entwicklungsschädigende Wirkungen werden nicht bezüglich der Festsetzung der Höhe des Grenzwertes bewertet, sondern bezüglich der Zuordnung von "Y"¹ bzw. "Z"² in der TRGS 900.
(2) Bei Vergabe der Kategorie "Y"¹ ist für den Abstand des NOAEL für Befunde zur Entwicklungsschädigung zum Grenzwert (AGW), unter Berücksichtigung des allometrischen Scalings nach Grundumsatz, eine Absenkung um den Faktor 10 anzuwenden. Dieser Standard-Faktor von 10 wird von der überwiegenden Zahl der untersuchten Substanzen gestützt. Lediglich fünf Pharmaka mit teratogener Wirkung weisen einen höheren Faktor auf. Hier sind insbesondere kinetische Besonderheiten (deutlich längere Eliminationszeit beim Menschen) ausschlaggebend.
(3) In Abhängigkeit von der Art und dem Schweregrad der aufgetretenen Effekte (z. B. höherer Faktor für teratogene Effekte im Vergleich zu Variationen oder Fetengewichtsverminderungen) und der besonderen Datenlage (z. B. Anzahl der untersuchten Spezies mit gleichartigen oder anders gearteten Effekten) kann eine Abweichung vom Standardfaktor erfolgen.
(4) Ein Faktor zur Zeitextrapolation wird bei einer adäquaten Expositionsdauer im Allgemeinen nicht als notwendig angesehen. Die Verwendung von Daten, bei denen nur eine eingeschränkte Exposition während der Gestation bestand, ist im Einzelfall zu prüfen und zu diskutieren. Bei akkumulierenden Substanzen, für die keine Mehrgenerationenstudien vorliegen, ist ein Zeitextrapolationsfaktor von Fall zu Fall zu diskutieren und festzulegen.
1 | "Y" = Risiko beim AGW nicht zu erwarten |
2 | "Z" = Risiko beim AGW nicht auszuschließen |